Rezensionen

Daša Drndić erzählt die Geschichte der Kriege, Pogrome und Emigrationen

ALIDA BREMER



 

An einer Stelle in ihrem autobiographischen Roman (die Gattungsbezeichnungen sind allerdings bei Daša Drndić fliessend) Marija Czestochowska weint immer noch dicke Tränen. Das Sterben in Toronto sagt die Autorin: „Immer seltener glaube ich an Zufall. Bestimmt sind irgendwo in einer Enzyklopädie der Toten, in einem Garten oder Labyrinth Babylons alle unsere Pfade, die sich verzweigen aufgeschrieben“. Diese Worte, die gleichzeitig einen Bezug auf die Lektüre Danilo Kis‘, Jorge Borges‘ und Italo Calvinos bedeuten, könnten auch als ein Programm ihrer Literatur verstanden werden. Die zur Begutachtung vorliegenden Werke[1] stellen einen solchen literarischen Garten der Pfade dar, Pfade, die untereinander verwoben sind, so wie die Geschichte der Kriege, der Emigrationen, des Sterbens und der Neuanfänge, die in ihnen erzählt wird, verwoben und verstrickt ist.

 

Daša Drndić ist eine hervorragende Erzählerin, die souverän zwischen einem neuzeitlichen und in Kolumnen und Essays verwendeten autobiographischen Plauderton, der gerne mit „weiblichem Schreiben“ in Verbindung gebracht wird, dem dokumentarisch-akribischen Stil einer kühnen Journalistin, dem wissenschaftlichen Habitus einer Historikerin und einem sehr direkten, sezierenden, trockenen und nichts und niemanden schonenden, sehr auf den menschlichen Körper bezogenen Prosastil wechselt. Wenn zwei alte Menschen, Arthur und Isabella, ihr letztes sexuelles Spiel spielen, dann werden zwischen den Bildern ihrer vertrockneten und geschrumpften Geschlechtsorgane, die in Windeln stecken, Einschnitte aus Polizeidossiers eingeblendet, da die beiden beobachtet werden, weiter aus der Geschichte der Jugoslawischen Armee, bei der Arthur gedient hat, und Fakten zur Ermordung sämtlicher Mitglieder Isabellas jüdischer Familie, und diese und weitere Fäden schaffen ein dichtes, spannend und eindringlich erzähltes Netz, in dem einige unvergessliche Seiten über das Alter Melancholie statt Verbitterung und Anklage hervorrufen. Zusammen mit Kindheitserinnerungen, mit knappen Beobachtungen über den Verlauf der Zeit, wie etwa in der Beschreibung der Schokoladenkugel, die in Karl-Marx-Stadt, früher und heute wieder Chemnitz, produziert werden, angereichert durch ein Portrait von Karl Marx persönlich, bilden die Gedankengänge der Alten eine entblößte Konzentration auf das Wesentliche: den Körper und die wenigen Bilder, die die Erinnerung gespeichert hat. Und wenn der Roman Totenwande, für den die Form einer gerichtstauglichen Niederschrift gewählt wurde, voller durchgestrichener, zensierter Worte und Passagen gedruckt wird, dann wird auch diese graphische Darstellung zu einer weiteren Stilebene im Text. Der Erzähler (der Angeklagte) beginnt seine Aufzeichnungen mit den Worten, die sich auf das Opfer beziehen „Sie hatte eine große Scheide“. Diese Scheide wird zum riesigen Loch des Erzählkörpers, in das die grausame Geschichte über die medizinischen Experimente an jüdischen Kindern in Hamburg zusammen mit sehr genau recherchierten Biographien verschiedener Nazis, persönlichen Irrwegen eines Zagreber Künstlers, die Geschichte seiner Familie, das Leben und Werk von Paul Celan, Szenen aus dem stalinistischen „Archipel Gulag“ und viele andere Begebenheiten hinein gefügt werden. Die Begriffe Angeklagter, Opfer, Schuldiger, Gericht und Gerechtigkeit werden alle in Frage gestellt – eine eindrucksvolle Eigenschaft dieser Autorin ist es, keine fertigen Lösungen zu bieten, alles in Relationen zwischen den detaillierten Einzelheiten stehen zu lassen und dem Leser nur nackte Informationen zu bieten, durch die Wahl der Informationen jedoch den knappen Text in eine sehr anspruchsvolle und reichhaltige Lektüre zu verwandeln.

 

Ihr Leben als Kroatin in Serbien, ihre Flucht aus dem Serbien der Neunziger nach Kroatien[2] , ihr Exil in Kanada und die Rückkehr nach Kroatien gehören zu den besten Seiten der Exilliteratur dieses Raumes. Dank ihrer präzisen Beobachtungen und einer Art kalt-distanzierender Ironie, lässt sie die kanadische Gesellschaft, die für die westliche Lebensart steht, im Spiegel der Emigrantengeschichten entstehen, verknüpft diese mit der Geschichte der Emigrationen in der ganzen Welt und stellt trocken fest, dass sie für alle diese Regelungen eines geordneten Einwanderungslandes einfach zu alt und zu nostalgisch ist. Etwa die Verordnung über die Adoption von Katzen. Oder die Kontrolle ihrer Essgewohnheiten durch das Sozialamt (Olivenöl gilt als Geldverschwendung – wie soll aber jemand, der vom Mittelmeer kommt, so etwas verinnerlichen?) Wie nebenbei erzählt sie uns in einem Atemzug von den riesigen Bäumen und von der bezaubernden Natur in Kanada und von den Erniedrigungen und Demütigungen, die akademisch gebildete, einst stolze Menschen aus ihrer alten Heimat zu Putzpersonal, zu Wartenden in Sozialämtern und zu schlecht bezahlten Fliessbandarbeitern verwandeln. Der Krieg erscheint in einem Nebensatz, in Klammern, am Ende einer Aufzählung und immer als dokumentarisch, authentisch, von ihr erlebtes Zeugnis – als die abgeschnittenen Finger eines Mädchens, das das serbische Konzentrationslager hinter sich hat, als die von Granaten zerfetzten Beine eines lächelnden Schauspielers, als der Hunger in den Gesichtern ihrer Freunde, als die blassen Flüchtlingskinder in billigen, abgetragenen Jacken aus der humanitären Hilfe, die ihr Kastanien verkaufen, die sie nicht mehr essen kann. Und doch ist der letzte Krieg auf dem Balkan und auch die Geschichte des Holocausts immer präsent – die beiden Themen bilden den unzertrennlichen Hintergrund ihrer heitersten und düstersten Gedanken, sind der Kern all‘ ihrer Erinnerungen. Und während sie zusammen mit vielen anderen Zuflucht in sterilen, wohlhabenden und geordneten kanadischen Verhältnissen sucht, beschreibt sie das wahre Leben als eines, das sich nur in Europa abspielen kann, und zwar in jenem verfolgten Europa - in den kurzen Episoden vor der Ermordung oder Flucht. Die Erkenntnis des Schmerzes wird zur einzigen möglichen Erkenntnis – die Werke von Daša Drndić nehmen ein durch die Tatsache, dass diese Maxime nicht ausgesprochen, sondern immerfort erzählt wird.

 

 


[1] Der genannte Roman Marija Czestochowska weint immer noch dicke Tränen. Das Sterben in Toronto (1997) – engl. Titel The Suticase People; Canzone di Guerra. Neue Heimatlieder (1998); Totenwande (2000) und der Roman Doppelgänger (2002) und das nach ihm geschriebene und mit dem „Prix Europa 2002“ ausgezeichnete Hörspiel Arthur und Isabella (2002).

[2] Gerade die Nähe beider Sprachen zueinander macht für diejenigen, die in beiden Ländern gelebt haben, das Differenzieren beinahe unmöglich, und leider gibt es, wie es in der Beschreibung des Schicksals eines Emigranten in Kanada heißt, noch keine Schnellkurse, in denen die Kroaten wieder Kroatisch lernen könnten, da ihre serbische Akzentfärbung und das eine oder andere Wort sie zu Verdächtigen in ihrem eigenen Land macht, womit der Begriff der Heimat in seiner fragwürdigen Bedeutung entlarvt wird.

 

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Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

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Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
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Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

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Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

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Was willst du in Senj, Thilo?

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