Prosa

Nebojša Lujanović: Haufarbenwolke

Nebojša Lujanović wurde 1981 in Novi Travnik, Bosnien und Herzegowina, geboren. Er hat die verschiedensten Jobs gemacht: Bauarbeiter, Lagerist, Bibliothekar, Hochschullehrer. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Vergleichende Literaturwissenschaft. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb doktorierte er auf dem Gebiet Literaturwissenschaft. Bisherige Veröffentlichungen: der Erzählungsband „S pogrebnom povorkom nizbrdo“ („Mit dem Trauerzug bergab“) (2008); die Romane „Godina svinje“ („Jahr des Schweins“) (2010), „Orgulje iz Waldsassena“ („Die Orgeln aus Waldsassen“) (2011), „Oblak boje kože“ („Hautfarbenwolke“) (2015) und „Južina“ („Südwind“) (2019). Außerdem, „Autopsija teksta“ („Autopsie des Textes“), ein Handbuch für Creative Writing; die literaturwissenschaftliche Studie „Prostor za otpadnike“ („Ein Raum für Abtrünnige“), sowie den Essayband „Fatalne simetrije“ („Fatale Symmetrien“). Er lebt in Split und läuft als Hobby Marathons.



 

Auszug aus dem Roman „Hautfarbenwolke“.

Aus dem Kroatischen von Claudia Mayr.

 

 

Sechzehn Jahre lang ging er gesenkten Hauptes, sprach halblaut, sah zur Seite und lächelte stumpf in Zustimmung, und nun fand das alles an diesem Morgen ein Ende mit einem kurzen Blick über die Schulter beim Einsteigen in den Bus. Flüchtende haben den Luxus langer Abschiede nicht. Zum ersten Mal empfindet er seinen Verfolgern gegenüber etwas mehr als Gleichgültigkeit. Sie raubten ihm die Zeit für ein langes böses Lächeln, während er am Bahnhof ein gutes Dutzend Busse beobachtete, die all die Leute mit geflickten Mänteln, von denen Plastiktüten baumelten, ausspien. Unter der Glasur der beleuchteten Fassaden und der geometrisch gesetzten Blumen spiegelte sich auf diesem Ort die Seele der Stadt wieder. Unterdrückte Unterschiede, marginalisierte Ankömmlinge, diese unbearbeitete rohe Masse, die zu schnell und zu plötzlich ankommt, den Blutfluss verstopft, droht aus den umliegenden überfüllten Straßen und isolierten Vierteln zu explodieren und sich über die gut erhaltenen Eingeweide des Stadtkerns zu ergießen. Jek rom majcra, er rutschte etwas im Sitz herum, um bequemer in diesen Gedanken eintauchen zu können. Und eine Horde neuer Eindringlinge. Der allerschlimmsten. Der eigenen. Ein paar hundert Leute, nur diesen Morgen, und in der gegengesetzten Richtung nur er. In diesem natürlichen Austausch von genetischem Material hatte die Stadt, die er hinter sich ließ, die schlechtere Karte gezogen.

Diese Millionenstadt ist eine schreckliche Masse von Körpern, verflochten in das morgendliche und nachmittägliche Gedränge auf den Straßen. Doch er schaffte es nicht, sich zwischen ihnen zu verlieren. Es ist eine Sache, Misserfolg hinunterzuschlucken, wenn man versucht, etwas aus sich zu machen und aus der Masse hervorzustechen. Aber wie soll man den Misserfolg hinunterschlucken, wenn man vorhat, nichts und niemand, gewöhnlich, gesichtslos, unsichtbar zu werden? Schuld ist die Stadt, und wie, wenn sonst nichts anderes da ist, womit man die Bitterkeit hinunterspülen könnte. Die Stadt, die so auf Gleichheit beharrte, in der er aber nie zwei ähnliche, geschweige denn gleiche Gesichter gesehen hatte. Aber das ist eine fruchtlose Anschuldigung, sie schaffte es nicht, auch nur ein Fünkchen Zorn aus ihm hervorzuholen. Zorn verlangt zu viel Kraft und Willen. Schlussendlich geht es um eine völlig physiologische mechanische Reaktion des Körpers und seines Imperativs, das innere Gleichgewicht zu erhalten. Die Stadt schafft es nicht, den überhandnehmenden Zustrom von Fremdkörpern zu verdauen, zu verarbeiten, zu behandeln, aktiviert deswegen Darmkontraktionen, verstärkt die Säureausschüttung und die Ausscheidung des Überflüssigen. Das ist überhaupt nichts Persönliches. Er ist ein unverdautes Gerinnsel, das Überbleibsel eines unerwünschten Happens. Auch wenn er sechzehn Jahre in dieser Stadt verbracht hatte, und seinesgleichen sogar drei Mal so viele, verliert der Organismus im krampfhaften Überlebenskampf das Gefühl für Nuancen. Wenn die Theorie auch nicht wasserdicht ist, so ist sie wenigstens eine Übergangslösung. Jetzt hat er keine Kraft für Wut, aber auch nicht die Ruhe, auf dem Sitz einzuschlafen.

In jedem Moment und in jeder Situation war klar, wo sein Platz war. Das wussten alle um ihn herum, er begreift es erst jetzt, als er die Stadt verlässt. Die Gaswerksiedlung. Die baufälligen Barracken, die Licht, Wind und Regen durchließen; Wellblechhütten, zusammengeschustert ohne Ordnung und Sinn; etwas besser gemauerte ebenerdige Häuser, geschmückt mit Abfall; all das hineingequetscht zwischen drei fensterlosen Rückwänden benachbarter Werksanlagen, und dann noch durch zwei breite, stark befahrene Straßen begrenzt. Nichts Bösartiges, nichts Geplantes, eine natürliche Hürde, wie ein Grenzfluss, der zwei Länder teilt. In diesem Kessel der Hilflosigkeit und Verbitterung, beim Geruch von kochendem Brot- und Maisbrei, flogen Beschimpfungen, Drohungen, Gelächter und manch ein Fluch hin und her. Alles hat sich ausgehärtet wie dieser verdammte Brei auf dem Teller am nächsten Tag. Immer lebendig und warm von der Unzahl improvisierter Schornsteine, lecke Metallrohre, die einen Teil des Rußes in die Höhe leiten und den anderen auf die Flachdächer verstreuen. Das ganze Netz dieser Leitungen, ein Wirrwarr wegen der zu eng aneinander gebauten Holzschuppen, erhält den ewigen Elendsfluss, der sich in dünnem Ruß manifestiert. Heizen gegen die Feuchtigkeit, wegen der bloßen Füße, wegen der Kleidung, die auf der heißen Platte ausgekocht wird, gegen das Ungeziefer, das durch die Ritzen eindringt, immer nachheizen, auch im Frühling und im Sommer, als würde die ganze Siedlung absterben, wenn eine dieser Leitungen verstopft wäre.

An jenen Tagen, als er in einer dieser Blechhütten schlafen musste, die er nie gelernt hat, čher zu nennen, nagte immer der gleiche Wurm an seinem Schlaf. Auf diesem Stück Erde, das durchtränkt war von Fäkalien, die aus unbeholfen ausgehobenen Jauchegruben austraten, funkensprühenden durchweichten nicht isolierten Kabeln und eingetretenen Pfaden zwischen den Katen, hatte er das Gefühl, als würde ihn in einer dieser Nächte die aufgeweichte Erde schlicht und einfach verschlingen. So ein Traum endete gewöhnlich auf eine von zwei Arten. Entweder war er lebendig im Schlamm begraben, durch jeden Stoß noch tiefer hineingezogen ins Vakuum der unersättlichen Erde, die erzürnt über die auf ihr kriechende Misere war. Oder er konnte sich irgendwie aus dem Schlamm herausziehen und zwischen den Menschen umhertaumeln, während sie sich angeekelt abwandten. Dann begann er, den Schlamm abzuschaben, mit den Nägeln abzukratzen bis er mit Erschrecken feststellte, dass er nicht eine Schicht abbekommen hatte, dass der Schlamm keine verkrustete Substanz auf seiner morchi, sondern die morchi selbst war.

Und während ihn nachts Schlaflosigkeit quält, tagsüber Kopfschmerzen, schieben die anderen ihre Karren, scheppern mit ihren Töpfen vom einen Ende der Siedlung ans andere, klappern mit Löffeln die Türen ab, schleifen über die Erde riesige Nylonsäcke, vollgestopft mit Pfandflaschen, fahren mit Fahrrädern zur Nachtschicht bei der Müllabfuhr, verschnörkelte Melodien vor sich hin pfeifend, packen kleine Kinder am Ärmel und versohlen ihnen den Hintern, wobei die Kinder nicht weinen, streiten mit Gott, von dem sie nicht wissen, wie sie ihn ansprechen sollen, weil sie ihren del dazu gebracht haben, sich mit Allah, Jehova oder wem auch immer zu paaren... All dies läuft auf eine, für ihn unverständliche, auf der Aussöhnung mit dem Leben beruhenden Zufriedenheit hinaus. Einer Aussöhnung, die weder festlich noch plötzlich geschieht, mit starken Gefühlen und großen Entscheidungen. Der Mensch wacht einfach damit auf und führt sein Leben fort, des eingepflanzten Antikörpers nicht bewusst, geimpft gegen das Bedürfnis nach Veränderung, nach etwas Anderem und Besserem. Ihm war das nie passiert. Und am Ende blieb er der einzige Verlierer, der keinen Moment der Ruhe oder Zufriedenheit kennt. Nicht einmal auf diesem kleinen Flecken durchtränkter Erde, den sie ihm so großzügig reserviert hatten.

„...nis“

Jahrelang hatte er geübt, wenn schon diese Aussöhnung eine für ihn unerreichbare Fertigkeit blieb. Mit einem Seufzer, ohne ihn, Schlucken, Stottern, absichtlich ungenügend geöffneten Lippen, unterdrückt.

„...enis.“

Wenn sie ihn wirklich zur Wiederholung zwangen, bengeko alav. Was selten vorkam. Aber es kam vor.

„Enis.“

Ein zweisilbiges Wort, in dem er nur die zweite, unwichtige Silbe deutlich aussprach. Aber die erste ist die, die zählt. Sein ganzes Leben steht und fällt mit diesem nicht bestehenden Laut. Sein Ausbleiben (Enis) sortiert ihn unfehlbar in bunte Moscheen, Pluderhosen, Ramadane hinein. Und in Verbindung mit der Physiognomie noch einige Stufen tiefer, in eine der Gaswerksiedlungen irgendwo auf der Welt. Das Hinzufügen eines einzigen Lauts (Denis) wird ihn von diesen Ketten befreien und ihn der Mehrheit anschließen. Einer Gruppe Menschen, die ihm nur wegen dieser einen Eigenschaft unerreichbar schien, auch wenn man sicher noch hundert andere finden könnte. Und diese Eigenschaft lässt sich mit der Tatsache auf den Punkt bringen, dass sie kein lađavo kennen. Wegen dieses lađavo ist er ein wahrer Meister im Verschlucken der ersten Silbe (-nis) geworden, gleichzeitig geschützt vor dem Vorwurf der Aneignung oder Ablehnung. Wie?, selten kam es vor, dass er wiederholen musste, dann betonte er stärker, aber wiederum den Anfang verschluckend, Enis. Ich habe nicht richtig gehört, entschuldige!, der Gegenüber war manchmal hartnäckig und drängte ihn dazu, sich durch die gesprochene Leere des nichtvorhandenen Lauts zu kennzeichnen, aber dann war die Hoffnung ohnehin verloren, dass es zu Verständnis oder Annäherung kommen könnte. Der alav, den er sich nicht ausgesucht hatte, den andere eintragen und hinzufügen, den andere verbinden, platzieren, einschließen, definieren, auch wenn das alles überhaupt nichts mit ihm zu tun hat. Menschen verschlucken Worte, ganze Sätze, niemals ausgesprochene Gefühle, verschlucken ein ganzes Lebensstück, verschweigen es... Ihm konnten sie einen verschluckten Buchstaben nicht verzeihen.

Der Morgen ging in den Tag über, die Sonne wechselte auf seine Seite des Busses, und Strahlen, zu stark für diesen Frühlingstag, stachen wie Dolche in seine unbedeckten Unterarme. Er zuckte vor diesem Stich zusammen, wechselte in den Schatten und erinnerte sich an eine Sache, die er nicht ändern konnte. Morchi. Tagelange Beobachtung im Spiegel unter dem flackernden Licht einer Glühbirne, die an einem Kabel von der Zimmerdecke hing, waren nötig, nach ziemlich häufiger Schlaflosigkeit, um die Zweifel zu vertreiben. Ja, man konnte mit Gewissheit sagen, aus welchem Winkel auch betrachtet, seine Gesichtszüge hatte er von seinem gadžo Vater. Ausgeprägte Wangenknochen und Kinn, nicht die feisten und gerundeten Backen, die abstehenden Ohren der Kinder, die in der Gaswerksiedlung herumliefen. Mit so einem Aussehen, so tröstete er sich, und einer um ein paar Nuancen hellerer Haut, konnte er unbemerkt auf die andere Seite wechseln. Worauf er wegen seines dad ein Anrecht hatte. Deshalb mied er immer die Sonne, wich Treffen im Freien, auf Schulspielplätzen aus, er ging tagsüber nicht spazieren... Er suchte die schlimmsten Nachtarbeiten, zu denen er wegen der unregelmäßigen Straßenbahnen zu Fuß ging, mit leichtfüßigem und spielerischem Schritt, getragen von der Phantasie, dass in dieser Finsternis, wie bei einem im Keller vergessenen Kürbis, die Schwärze aus seiner morchi verdampfen könnte. Die kali morchi blieb, was er bekam, war die Angewohnheit, tagsüber zu schlafen, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Redeschwäche und ein kaputtes Verdauungssystem, zurückzuführen auf heißes geschmackloses Gebäck aus der Bäckerei an der Straßenbahnremise. Die Arbeit als Kellner, die ganze Nacht munter hinter dem Tresen zu stehen wegen vier lokaler Säufer und ihrer acht Weinschorlen, passte perfekt zu seinen bereits gefestigten Angewohnheiten.

    

 

 

 

 

 

 

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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