Prosa

Der Mohnsamen

NEVEN UŠUMOVIĆ
Erzählung aus dem Band „Der Mohnsamen“
Aus dem Kroatischen von Blažena Radas.

"Ušumović ist Autor einer völlig eigenartigen, erstaunlichen, halluzinatorischen Prosa, die Ihnen wie feiner Sand unter die Haut geht, direkt ins Gehirn, und sich dort ablagert, unauslöschlich wie Heroin in der Seele eines Süchtigen." - Teofil Pančić (Vreme).



 

DER MOHNSAMEN

 

Mit den Fingerkuppen versuchte ich erfolglos den Zinnsoldaten in seiner Hosen steif zu bekommen. Ich kann noch nicht mal behaupten, dass er mich nicht beachtet hätte; Joška beachtete mich, aus Anstand ließ er mich machen, rücksichtsvoll, damit ich ihm bloß nicht seine Arbeit verdarb. Die Zubereitung von Mohntee war eine sehr ernste Angelegenheit. Schließlich konzentrierte auch ich mich auf die Zubereitung und ließ den Soldaten in der Asche unserer Zärtlichkeit ruhen.

            Sah er, was ich sah oder sah er tatsächlich nur das: Mohnkapseln, Mäusekot, ein Stück Zitrone, Honig und eine Teekanne? Entfernte er einen Teil von mir, der an seinem eisig-sauberen Herzen haftete, während er angeekelt Mäusekot wegmachte – den übrigens immer nur er fand? Der Tee würde den Weg zwischen uns nicht ebnen, die Unerreichbarkeit, die Abwesenheit von Berührungen, von jeder Leidenschaft. Meine Handflächen waren noch heiß, noch konnte ich sehen, wie er wuchs und pulsierte in meinen Fäusten, unter meinen Fingern. Joška beendete seinen Teil der Arbeit. Ich legte die Kapseln nacheinander in den Topf, gab die Zitrone dazu und übergoss alles mit Wasser.

            Der Holzofen wärmte uns schon, unter dem Topf knisterten Wassertropfen, die vom Waschen übrig geblieben waren. Etwa zwanzig Minuten würden wir den Tee kochen, danach musste er ziehen und abkühlen.

            Das Großmütterchen, von der wir die Kapseln gekauft hatten, lebte in einem Haus, das schon am Stadtausgang von Subotice lag, beim Friedhof von Senćani, in der Nähe der Bahngleise. Joška brachte das Opium oder im schlimmsten Fall die Kapseln aus Budapest, aber dieses Mal hatte er sich verrechnet, sein Drama wurde nicht angenommen, sie hatten ihn nicht nach Pest eingeladen und er musste sich auf die Suboticer Quellen verlassen. Er hatte große Hoffnungen in das Drama gesetzt, er sah ihn ihm ein Pfand seiner endgültigen Affirmation, einen großstädtischen Erfolg. Während der Erfolg jedoch nur ihm gehören würde, fiel der Misserfolg auf alle, die ihm nahe standen, auf uns alle, wir alle waren schuld.

            Die alte Dalmatinerin sah uns misstrauisch an, ihr Ungarisch war erbärmlich schlecht; es beschränkte sich auf einige Wörter: wie viel, habe ich – habe ich nicht. Wie ein Mantra murmelte sie etwas wie: dico, dico, dico. Sie ließ uns lange in ihrer Küche sitzen, die nach geräuchertem Fisch roch, Stockfisch hing in Stücken wie Fledermäuse an den Wänden. Es war innen übertrieben warm, Joška wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, während wir durch zwei Fenster mit eingeschlagenen Scheiben das Schneetreiben beobachteten.

            Endlich tauchte sie auf, aber nicht mit den Kapseln, sondern mit Glasbehältern, in denen sich schon eine trübe Teeflüssigkeit befand. Joška wurde wütend und begann zu fluchen, er wusste genau, was er ihr gesagt hatte, unmöglich, dass sie ihn nicht verstanden hatte, wer weiß, was sie da reingetan hatte, aus welcher Scheiße sie den Tee gebrüht hatte. Er ging mit ihr hinaus und ließ mich allein in der Küche zurück. Ich zog meine Finger lang, einen nach dem anderen, streckte mich, und fühlte das Wohlbehagen einer Katze in ihrer Biegsamkeit. Joška zog mein Körper nur als schmerzendes Instrument seines Zornes an, kurze Augenblicke des Genusses fand er nur in diesen dumpfen Schlägen und vielleicht beim Betrachten meines verformten, angeschwollenen Gesichts. Seine Ausbrüche waren nicht vorhersehbar und ich fühlte, dass er mich in solchen Momenten am liebsten töten würde. In den Dramen, die er schrieb, war nie Platz für mich gewesen, in keiner Figur konnte ich mich wieder erkennen und ich fühlte sein Unbehagen, wenn ich als seine Begleiterin bei einer der Premieren in Pest auftauchte. Ich erkannte lediglich dieses Genießen beim Entstellen, das selbstgefällige, spöttische Lächeln, das immer wie eine Pose auf seinem Gesicht war und hinter allem stand, was er schrieb und tat. Genau in dieser Verfassung erschien er jetzt in der Tür und sagte zu mir komm, wir gehen; er hatte eine kleine Jutetasche in der Hand. Wir hatten die Kapseln von der Alten bekommen, die uns wahrscheinlich verfluchte, während wir gingen.

            Der verdammte Tee wurde kalt, jetzt konnte man ihn trinken. Joška goss ihn durch ein Sieb und stellte ihn auf den Tisch. Er hatte sich rittlings auf den Stuhl gesetzt, sein untrügliches Gespür für das Theatralische brachte ihn zu dem Punkt, der ihm größtmögliche Entfernung zu mir garantierte. Irgendwo habe ich gelesen, dass genau diese Entfernung am produktivsten ist für geistige Gespräche, doch hier ging es sicher nicht darum. Der Tee hatte einen unbeschreiblich ekligen Geschmack. Ich hatte drei Esslöffel Honig hineingetan, eine halbe Zitrone ausgepresst und alles umgerührt. Joška hatte bis dahin schon eine Tasse getrunken und nippte an der zweiten. Alles war vorhersehbar, sein kurzer Monolog über Opium war zu erwarten. Während ich dieses Gift schlürfte, sah er mich hingerissen an, als sähe er vor sich einen vollen Zuschauersaal. Verhundertfacht würde ich ihm vielleicht wieder gefallen.

 

-       Diese niederen menschlichen Wesen (über Menschen um sich herum sprach er immer als menschliche Wesen) wissen nicht, was Genuss ist. Sie befriedigen ihre Wünsche mit Vorsicht, denken dabei immer an ihren Arbeitsplatz, ihre Familie, ihr gesellschaftliches Ansehen. Pfui! (unbedingt zweimal) Pfui! Die große Liebe (ha, ist ihm rausgerutscht, er hasst dieses Wort) äußert sich nur in großem Genuss (hier dachte er sicher nicht an unsere „große Liebe“, zwölf vergebliche Jahre). Wegen dieser miesen  Arschlöcher und ihrer langweiligen und widerwärtigen Vergnügen ist diese Welt zu einem Ort ohne Risiko und echte Aufregung geworden. Unser angeborener Hedonismus zur Feier des LEBENS (für manche immer in Großbuchstaben), ist zu ihren Gefängnissen verdammt, die in ihrer Sprachlosigkeit (alle sind sprachlos, ich ganz besonders) Theater und Konzerthallen genannt werden.

 

Ich habe ihm nie applaudiert, eventuell fragte ich ihn, welcher seiner Helden dies sagte. Nach einer kurzen Pause antwortete er immer nur mit Namen: Géza oder Dide oder Otto oder László. Dieses Mal war ich konkreter:

 

-       Wirkt er bei dir?

-       Was? – fragte er, als ob ich nach seinem Monolog fragte und nicht dem Tee.

-       Der Tee.

-       Ja – antwortete er wie ein Echo.

-       Ich mag lieber reines Opium, das hier benebelt mich, bis jetzt ist mir nur schlecht davon.

-       Warte ab, bis es dich zudröhnt.

 

Wir holten die Schlittschuhe aus der Tasche und gingen nach draußen. Ich fühlte mich nicht gut, ich war sicher, dass es schon dämmerte, doch die Dunkelheit und der Nebel saugten noch immer nur den Mondschein auf. Joška ging ständig dicht hinter mir her und schubste mich grob, als ob er mich zur Erschießung führte. Wir kamen am Ufer eines zugefrorenen Sees an. Von einer Bank, auf der früher bestimmt vornehme Damen ihre Sommer verbrachten, unter ihren Hüten und bunten Sonnenschirmen dösten, wischten wir eine dicke Schneeschicht weg und setzten uns um unsere Schlittschuhe anzuziehen. Auf Joškas Wunsch hin hatten wir sie vor langer Zeit gekauft, schwarze für ihn, weiße für mich. Der Tee hatte uns verstummen lassen. Ich lachte sinnlos über alles: das Ausziehen der Schuhe, endlos langes Zuschnüren, Fußsohlen, die mit Widerstand in ihre neue groteske Käfige gingen. Ich hörte auch Joškas gedämpftes Lachen, spöttisch und entschlossen.

Ich eilte aufs Eis und war sofort im Nebel verschwunden. Eine Zeit lang war nichts zu hören, nur das leise Quietschen unter meinen Füßen und das Knirschen des Eises. Noch nicht einmal das obligatorische Bellen der Wachhunde war aus der Ferne zu hören. In einem Augenblick schien mir, ich hörte das schwere Flattern eines ganzen Schwarms Krähen über mir. Ich konzentrierte mich auf das Geräusch und erfand darin ein Gespräch unsichtbarer Vögel, das in meiner Übersetzung ein obszönes Sich-Absprechen war. Ich hörte sie Wetten darüber abschließen, dass meine Brustwarzen nicht annähernd so schön waren wie Walnüsse, an denen sie sich gestern satt gefressen hatten. Eine Abwechslung käme ihnen aber gelegen, meinten sie. Selbst wenn diese wenigen Happen viel Arbeit bedeuteten: Mantel, Bluse aufreißen, Herumgezerre, ekliges Blut.

            Ich stürzte über eine Wölbung auf dem Eis, genauer eine breite Eisnarbe, die durch das Zusammenprallen der Eisblöcke entstanden war. Es war ein schlechtes Zeichen: Die Narben bilden gewöhnlich ein ganzes Labyrinth, vereinen sich zu Eisbergkränzen, die man manchmal nur auf allen Vieren überqueren kann. Meinen Ängsten zum Trotz legte ich mich auf den Rücken und gab mich den Nebelschwaden hin, genauer Nebeldecken. Ich sah Eisfunken zwischen den Nebelschichten und dem Eis sprühen. Mir war, als läge ich auf einem Schiff und schwömme zum Mond. Der blasse lichte Punkt, den ich als Ziel bestimmt hatte, rief mich zu sich. Die Nebelschwaden trieben vor meinem Eisschiff auseinander, Licht breitete sich aus, die Dunkelheit zog sich in weite Ecken zurück. Ich musste meine Augen mit den Händen bedecken und erst als ich entdeckte, dass mich dieses Licht wärmte, warf ich erneut einen Blick. Die Sonne; nicht der Mond. Die ganze Zeit hatte ich in die Sonne geschaut.

            Der Schrecken ließ mich zusammenzucken, ich richtete mich auf. Unter einem Bein bildete sich eine Blutspur. Die Wunde war nicht groß, doch alles dauerte nun schon zu lange. Am Horizont sah ich Joška verschwinden, klein wie ein Mohnsamen. Schüsse waren zu hören, er hatte immer eine Pistole bei sich. Schoss er auf Krähen? Vielleicht versuchte er mich zu treffen? Ich wünschte, er würde in einem der Angellöcher im Eis verschwinden, im tiefen Wasser, zwischen fetten Süßwasserfischen und schlammigem Gras. Und tatsächlich, ein Schrei und das Aufbrechen des Eises waren zu hören. Es wirkte noch immer. Es hatte mich zugedröhnt, wie meine einzige Liebe es ausgedrückt hatte.

            Wegen des Lichts konnte ich das Ufer nicht sehen, der Schmerz rührte und drehte ununterbrochen an meinem Gehirn. Bald verstärkte er sich in durchdringenden Akkorden, die spiegelglatten oberen Schichten der Eisblöcke begannen aufzureißen. Der Lärm wuchs langsam an, verwandelte sich in kläffende Maschinengewehre, die unbarmherzige Sonne zog an hundert Strängen dieser gigantischen Zither, die in Unendlichkeit zerfiel.

            Spiegelfilme barsten um mich herum, Milliarden Prismen brachen das Licht und schufen unerreichte abstrakte Mosaiken.

            Endlich endlich bekam ich die Hauptrolle, endlich meinen Monolog, meine Verhundertfachung. Dankbar drehte ich mich in die Richtung, in die Joška verschwunden war, doch ich konnte nichts erkennen. Die Bühnenscheinwerfer hatten mich geblendet.

            Ich lehnte mein Ohr ans Eis: Auch unter mir dröhnte es, man konnte hören, wie die Körper der fetten Süßwasserfische aufeinander prallten. Ihre Unruhe war verständlich, das Fressen war endlich da und es galt, sich zu seinem Teil durchzukämpfen.

 

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

Authors' pages

Književna Republika Relations PRAVOnaPROFESIJU LitLink mk zg