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Sensationell gut geschrieben

So lautete das Fazit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 9. April 2023 über den Roman Die göttlichen Kindchen (Božanska dječica) der kroatischen Schriftstellerin Tatjana Gromača und fügte hinzu, dass er „sehr zu Recht 2013 in Kroatien mit dem Preis des »Romans des Jahres« ausgezeichnet“ wurde. Der 2022 bei STROUX edition in München erschienener Roman wurde mit dem Verlagsprämie des Freistaates Bayern 2022 ausgezeichnet. 2023 stellten die Verlegerin, Annette Stroux, der Übersetzer, Will Firth, sowie die Autorin den Roman bei zwei Veranstaltungen auf der Leipziger Buchmesse vor, und zwar mit freundlicher Unterstützung des Netwerkes Traduki, das die Übersetzung finanziert hatte. Seitdem sind eine Reihe positiver Rezensionen in deutschsprachigen Medien und auf den Seiten von Literaturblogger*innen erschienen.



 

Hier eine kurze Leseprobe (S. 70-76 der deutschen Ausgabe):

 

Eine Stadt auf Antidepressiva

 

In der kleinen Stadt, aus der Vater und Mutter kamen, nahmen die Menschen Antidepressiva. Alle nahmen unterschiedliche Betäubungsmittel, um alles akzeptieren zu können, was sie akzeptieren mussten, um sich über alles hinwegzusetzen, worüber man sich hinwegsetzen musste, um alles zu vergessen, was sie zu vergessen versuchten, um schließlich gleichgültige und passive Beobachter der Geschichte des allgemeinen Siechtums und des allgemeinen Wahnsinns in einer kleinen, pastoralen Umgebung zu werden.

 

Es gab verschiedene Männer, angefangen mit denen, die alte Fahrräder fuhren und die weiten Beine ihrer grauen Hosen mit Wäscheklammern befestigten, damit diese sich nicht in den Speichen der Räder verhedderten. Von solchen Männern gab es am meisten, auch im Winter, wenn sich der Reif auf ihren Kleidern sammelte, fuhren sie auf ihren rostigen Fahrrädern mit roten Netzsäcken voll Kartoffeln hinten über den Gepäckträgern.

 

Manchmal lag auf dem Gepäckträger ein Kunstdüngerplastiksack, gefüllt mit leeren Plastikflaschen, weil viele dieser Männer mit Wäscheklammern an den Hosenbeinen nur überlebten, indem sie mit bloßen Händen den Müll durchwühlten und nach leeren Plastikflaschen suchten, die sie für weniger als eine Kuna pro Stück verkauften. Es gab eine wahre Plage dieser Goldgräber, die schon im Morgengrauen vor Sonnenaufgang aus ihren kleinen Backsteinhäusern kamen, oder aus Papphäuschen, die mit Plastik, Draht, Teer, Pappe und Styropor umwickelt waren sowie leeren Eierkartons, die immer für gute Isolierung gegen den Lärm und Tumult einer geschäftigen Stadt sorgten.

 

Manchmal klemmte auf dem Gepäckträger ein kleiner Korb, wie in echten großen Städten auf der ganzen Welt, in dem eine schmuddelige Rübe neben drei welken Kohlblättern umherrollte, die vom Betonboden unter den Marktständen der Kleinstadt aufgelesen worden waren.

 

Alles drehte sich um Männer auf rostigen Fahrrädern, außerdem war die Stadt voll von denen, die Tag und Nacht sediert in Gebäuden und Wolkenkratzern schliefen, um nicht alles sehen zu müssen, was man unvermeidlich sehen musste, sowie von denen, die hinter Ladentischen und Theken dösten oder auf den unterschiedlichen Ämtern und Behörden, wo unter anderem auf höchster Ebene entschieden wurde, wer für die Begehung von Kriegsverbrechen bestraft und wer auf wundersame Weise bis auf Weiteres von diesen Strafen verschont bleiben würde.

 

Jeder in der Stadt musste Antidepressiva nehmen, sehr viel und ständig, weil in der jüngeren Vergangenheit dort etwas passiert war, das auf keinen Fall zugegeben werden sollte, denn allein das Geständnis über etwas beängstigend Schreckliches und Unmenschliches in der jüngeren Vergangenheit hätte gewissermaßen als Verrat gegolten.

 

Deshalb lebten alle jeden Tag, als wäre es nicht passiert, und sie konnten nur so leben, indem sie weiter jeden Tag Antidepressiva nahmen, denn das was passiert war, war in dieser Stadt so allgegenwärtig, dass es entgegen allen Bestrebungen aus allen Wänden und allen Häusern sickerte, aus allen Parks und Flüssen, aus allen Lagerhäusern und Betonwerken, genauso wie es aus den Körpern und Kleidern der Menschen sickerte, die in der sedierten Stadt lebten, egal wie modern und teuer sie gekleidet waren und was für ungewöhnliche und freisinnige Frisuren sie trugen.

 

Abgesehen von den Menschen auf Antidepressiva, in der Stadt gab es viele streunende Hunde, sogenannte Köter. Diese strichen Tag und Nacht durch die Straßen, Gänge, Unterführungen und Haustüren, zogen sich die Flussufer hinunter zurück und trieben in verlassenen Fischerbooten wie blau angelaufene Sphinxe mit durchdringenden, hypnotischen Blicken. Die Köter hatten etwas so Bedrohliches an sich, dass niemand es wagte, gegen sie vorzugehen, etwa die Stadtreinigung oder die Hundefänger anzurufen, oder die Frage ihrer Ausrottung oder Aussetzung in verstrahlten oder verminten Gebieten aufzuwerfen, wo sie innerhalb von wenigen Tagen krepieren würden.

 

Wenn sich jemand getraut hätte, die streunenden Hunde zu zählen, hätte er mit Entsetzen festgestellt, dass es Tausende dieser keineswegs lieblich aussehenden Tiere gab. Ihr Fell war dreckig, weil sie durch alle möglichen und unmöglichen, stinkenden und unzugänglichen Räume schlichen, die gewiss seit Jahren kein vorsichtsbedachter menschlicher Fuß betreten hat, stand wörtlich in einem lokalen Jahrbuch, das verschiedenartige wichtige Geschehnisse im Leben dieser Stadt auf Antidepressiva festhielt.

 

Woher auf einmal so viele Köter auf den Straßen der Stadt auf Antidepressiva kamen, wusste niemand so genau. Es wurde jedoch gemunkelt, dass es mit den Nachwirkungen des Krieges und der Vernichtungen zu tun hatte, mit dem mysteriösen Verschwinden mehrerer hundert Menschen, einfacher Bürger, die während des Krieges vom nächtlichen Sirenengeheul verschluckt worden waren, sowie mit den verwilderten Schweinen, die durch die umliegenden Felder und niedergebrannten Dörfer umherstreiften und seit Jahren Infektionskrankheiten auf diejenigen übertrugen, die sich ihnen aus Unwissenheit oder Leichtsinn näherten.

 

Es war gut, munkelte man, dass sich die verwilderten Schweine in den umliegenden Dörfern und Feldern zerstreut hatten, weil ihre unersättlichen Mäuler die bereits verwesenden Leichen zerstückelten und verschlangen und so die Spuren möglicher Kriegsverbrechen beseitigten. Die Schweine fraßen nicht nur Verwesendes, sondern auch Knochen, Stoffreste und die Kleider der Leichen, sodass die Gerichtsmediziner leer ausgingen. Sie konnten nur noch feststellen, dass es in den Dörfern und Feldern keine Verbrechen gegeben hatte – die Verbrechen seien eine dreiste Erfindung feindlicher Propaganda.

 

Was das mit den streunenden Hunden zu tun hatte, die Tag für Tag durch die Straßen der nahegelegenen Stadt strichen, konnte niemand mit Sicherheit sagen, aber auch ohne den Versuch, eine logische Erklärung zu geben, nickten alle bei der Erwähnung dieser Hunde in die Richtung der Dörfer, Felder und Wälder, genauer gesagt der verwilderten Schweine.

 

Die Köter oder streunenden Hunde suchten oft die großen blechernen Mülltonnen, sogenannte Container auf, an deren Inhalt sie erst gelangen konnten, wenn sie sie „auf den Kopf stellten“. Dies geschah meist nachts, wenn die Köter auf Beutezügen waren und es von umstürzenden Containern nur so brummte und krachte, als ob sich der Beschuss und die Sprengungen des Krieges in diesen Geräuschen als Echo fortsetzten; danach zerrten die schmutzigen, stinkenden, heimtückischen Mäuler der Hunde die Müllstücke auf dem Asphalt auseinander auf der Suche nach einer Wurstverpackung, einer geleerten Bohnendose oder verwesender Hühnerleber und Hühnerhirn.

 

Eines ihrer täglichen Ziele war auch eine Fleisch-, Wurst- und Pastetenfabrik, zu deren offenem Kadaverhaufen sie liefen, um Knochenstücke von Kälbern, Kühen und Schweinen zu zerreißen, und dort lieferten sie sich Kämpfte, gegebenenfalls bis aufs Blut, sodass es die Fabrik auch mit den frischen Leichen der bei diesen Kämpfen umgekommenen Hunde zu tun hatte.

 

In der Nähe der verminten Dörfer und Gebiete, deren analphabetischen Bewohner seit dem Krieg gelernt hatten, Stimmzettel in Wahlurnen zu stecken, aber immer noch in schlammigen Höfen lebten und in stinkenden Scheunen voller Scheiße ihre Kühe melkten, entstand das Zentrum für Frieden und den Kampf gegen den Krieg, wo einige der grausamsten, effektivsten Henker und Mörder des Krieges neue Ziele verfolgten.

 

Da der Krieg vor langer Zeit zu Ende gegangen war und es jetzt nicht mehr sinnvoll noch angesagt war, die Tötung verschiedenster unbequemer und unangenehmer Zivilisten anzuordnen, und da unter anderem daran gearbeitet werden sollte, dass alle vergessen, was sie innerlich immer noch mit Stolz erfüllte – aber für einige Personen in hohen Positionen einen Schandfleck darstellte –, verwandelten sich die Kriegsgewinnler, Anstifter und Täter des Krieges über Nacht in Freiwillige der Friedensbewegung.

 

Es war ein neues Image für neue Zeiten, das ein neues Marketing und neue Slogans erforderte, beispielsweise Toleranz statt Hass und Gewalt, oder Respekt für andere und andersartige ist eine Chance für Wachstum und gesellschaftlichen Fortschritt und dergleichen. Es genügte, auf den fahrenden Zug des sogenannten Friedensbündnisses aufzuspringen, das sich weltweit regen Zulaufs erfreute, und jeder Kaiser konnte neue Kleider erhalten, jeder Wolf konnte ins Lammfell kriechen, und diejenigen, die ihn vor früher kannten, ließen sich das nicht anmerken.

 

Trotz allem funktionierte die große Stadtuhr im Zentral-Park einwandfrei, und das träge Ticken ihrer 14-karätigen, goldverzierten Zeiger war bis in den nahen Vorort hinein zu hören, ebenso wie das Rauschen des mit einem hecht- oder welsgroßen Goldfisch gekrönten Stadtbrunnens.

 

Das lag daran, dass die Fischerei zu einer der Hauptbeschäftigungen der Nachkriegszeit in der Stadt geworden war. Angeln war die richtige und beste Therapie für zerrissene Nerven, die durch Betäubungsmittel beruhigt wurden, aber die untätigen Hände brauchten Beschäftigung.

 

So wurden die Uferböschungen und kleinen Sandbänke von Tagesanbruch bis in die stockfinstere Nacht scharenweise von Anglern besiedelt, die als seltsame dunkelgrüne Vögel in Armeetarnanzügen mit hohen Fischerstiefeln wie Brunnenstatuen mit der Angelrute in der Hand dastanden, auch wenn der Wasserstand bereits niedrig war.

 

Obwohl der Fluss durch Chemikalien und Abwässer vergiftet war und die bereits sedierten Bürger verschmutzte Luft einatmeten – denn diese wehte aus altlastigen, geplünderten und abgewickelten Fabriken, die jetzt nur noch als Kulisse für das Verbrennen sattelschlepperweise angekarrten Giftmülls aus den zivilisierten Ländern Europas dienten –, so waren die Fischerei, die Angler und die im Fluss gefangenen Fische doch das Wahrzeichen und der Stolz der kleinen Stadt.

 

Daher der oben auf dem größten Stadtbrunnen im Zentral-Park zappelnde Goldfisch, direkt neben der für den Stolz und die hart erkämpfte Freiheit der Stadt sinnbildlich aufrechten Kathedrale.

 

Aus dem Kroatischen von Will Firth ©

 

 

FOTO: Annette Stroux,Tatjana Gromača, Will Firth_KWS-Lesung 2023 © Matthias Mielitz

 

 

 

 

 

 

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