Essay

Das Schlüsselwort lautet „Dialog“

ZORAN FERIĆ
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Die zeitgenössische Literatur hat freilich einige Errungenschaften des Modernismus bewahrt, aber auch ihr starkes gesellschaftliches Interesse zeigt sich erneut. Und so pflegen die zeitgenössischen Schriftsteller aus unterschiedlicher Perspektive dieses gesellschaftliche Interesse: Jonathan Franzen die familiären Beziehungen im konkreten gesellschaftlichen Kontext, Ingo Schulze den Übergang in Russland und Deutschland, Jurij Andruchowytsch die gesellschaftliche Situation in der Ukraine, Andrej Nikolaidis die Besonderheit des montenegrinischen Kontextes, was Robert Perišić mit seinem Roman und seinen Erzählungen für Kroatien leistet.



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In der gegenwärtigen europäischen Situation, in der mit dem gemeinsamen Markt und den politischen und kulturellen Allianzen die Bedeutung der einzelnen Nationalstaaten immer mehr abnimmt und eine heterogene übernationale Struktur wie die Europäische Union eine Reihe ökonomischer und sozialer Standards in den einzelnen Ländern kontrolliert – angefangen davon, ob Olivenbäume gepflanzt werden oder nicht, bis hin zur Gesundheitspolitik und Haushaltsdisziplin –, ist es ganz natürlich, dass die Regionen als kleinere administrative, ökonomische und kulturelle Einheiten stärker ins Bewusstsein treten. Wichtig dabei ist allerdings, den übernationalen Charakter der Regionen zu betonen, in die mehrere souveräne Staaten eingeschlossen sein können, wie es zum Beispiel im Südosten Europas der Fall ist, oder Teile großer europäischer Staaten, wie wir es bei Deutschland oder Frankreich finden. In einem durch die langjährige Polarisierung des Kalten Krieges bestimmten Europa, an dem starke übernationale Strukturen wie NATO und Warschauer Pakt ebenfalls ihren Anteil hatten, kam es zu einem bemerkenswerten Übergang von streng nationalstaatlichen zu größeren politischen Strukturen, in denen die Nationalstaaten allerdings ihre administrative und politische Macht behielten. Es waren gewichtige Blöcke mit übernationalen Strukturen, mit den Nationalstaaten als ihren wichtigsten politischen Repräsentanten. In einer solchen Situation war jeder Regionalismus gefährlich. In gleichem Maße im Osten wie im Westen. Im Ostblock wurde jeder Versuch einer Änderung blutig niedergeschlagen. Die Beispiele von Ungarn und der Tschechoslowakei zeugen davon. Auf der anderen Seite sind die radikalsten Beispiele des Kampfes um die Loslösung einzelner Regionen Nordirland und das Baskenland. Der eine wie der andere Raum speiste die europäischen Medien Jahrzehnte hindurch mit tragischen Meldungen. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer und der Schaffung einer mehr oder weniger einheitlichen europäischen Lage wurde die Frage der Regionen ernsthafter diskutiert und gewann an politischer Relevanz.

Heutzutage geht man offener an die Frage der Regionen heran, und die Verbindung von Regionen verschiedener Länder miteinander wird nicht mehr als politische Gefahr gesehen. Slowenien und das österreichische Kärnten können nach dem Ende der Machtblöcke und dem Fall Jugoslawiens freier zusammenarbeiten, so wie schon früher Südtirol, obwohl italienisch, dem österreichischen Tirol außerordentlich nahe stand, mit dem es auch durch die gemeinsame Sprache verbunden ist. Die Frage des Staates ist nicht mehr die Mutter aller Fragen, und es gibt nicht mehr die starken, im Grunde zerstörerischen nationalen Energien, die regionale Verbindungen verhindern. Das wird auch in weniger eklatanten Fällen als Kärnten oder Tirol deutlich. In diesem Kontext können wir auch die bayrisch-kroatischen Literaturbegegnungen sehen: als regionale Zusammenarbeit. Und obwohl es sich auf der einen Seite um ein Bundesland und auf der anderen um einen selbstständigen Staat handelt, geht es hier doch auch um dominante Regionen mit größeren ökonomischen und kulturellen Strukturen. Und das nicht nur infolge der Tatsache, dass Kroatien größenmäßig als europäische Region oder größere Stadt gelten kann, sondern auch das Bewusstsein, dass einzelne Regionen verschiedener Staaten der Mentalität ihrer Einwohnerschaft, der Wirtschaft und Kultur nach einander näher stehen können als einzelne Regionen ein und desselben Staates. So zeigt Südtirol größere Nähe zu Österreich als zu Kalabrien, und natürlich weist Bayern größere Nähe zu Mitteleuropa als zu Nordeuropa auf. Insofern haben regionale Kulturpolitiken durchaus ihre Berechtigung für den Erwerb neuer Erfahrungen, für neue Verbindungen und gegenseitigen Austausch.

Außer dem regionalen Kontext, der eigentlich in der Domäne der Kulturpolitik der einzelnen Regionen oder administrativen Einheiten liegt, gibt es auch den engeren literarischen Kontext. Die Literatur nämlich, und das nicht nur im europäischen, sondern im weiteren, westlich-abendländischen Umfeld, wendet sich immer mehr konkreten Lebensproblemen zu und möchte immer mehr Antworten auf konkrete Fragen geben: auf Fragen der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens. Natürlich auch darauf, wie sich die gesellschaftlichen Bewegungen auf den Einzelnen auswirken. Der moderne Roman ist der großartige Triumph eines Einzelnen, seines Bewusstseins und seiner persönlichen Geschichte. Mit dem Übergang vom realistischen zum modernen Roman geht auch dieser Triumph des Individuums einher, und die größten Autoren des modernen Romans wie Proust, Joyce oder Rilke haben gezeigt, dass der einzelne Mensch ein Kosmos ist, in dem sich der andere, der gesellschaftliche Kosmos bricht. Dass der Einzelne Auge und Anblick, zugleich auch Spiegel des großen Kosmos ist, in dem er lebt. Die zeitgenössische Literatur hat freilich einige Errungenschaften des Modernismus bewahrt, aber auch ihr starkes gesellschaftliches Interesse zeigt sich erneut. Und so pflegen die zeitgenössischen Schriftsteller aus unterschiedlicher Perspektive dieses gesellschaftliche Interesse: Jonathan Franzen die familiären Beziehungen im konkreten gesellschaftlichen Kontext, Ingo Schulze den Übergang in Russland und Deutschland, Jurij Andruchowytsch die gesellschaftliche Situation in der Ukraine, Andrej Nikolaidis die Besonderheit des montenegrinischen Kontextes, was Robert Perišić mit seinem Roman und seinen Erzählungen für Kroatien leistet. Auch die neuen Puritaner in England untersuchen ja augenscheinlich alle in unterschiedlichen Diskursen vor allem eines: die Gesellschaft. Nach dem großen Aufschwung der Individualität in der modernen Literatur, nach dem literarischen Ludismus und dem musealisch-registrierenden Wirken der Postmoderne hat die moderne Literatur des Dritten Jahrtausends die Gesellschaft als primäres literarisches Interesse in die Literaturen zurückgebracht.

Die Gesellschaft im weitesten Sinne des Wortes ist der Hauptheld des realistischen Romans. Und der ist in den meisten Fällen regional. Erinnern wir uns an Balzac und seine Studien über das Leben in der Provinz und in Paris, so sehen wir, dass die Probleme regionaler Natur sind oder sich in unterschiedlichen Milieus brechen. Die kroatische Situation ist in dieser Hinsicht noch zugespitzter: unser Realismus ist ausgesprochen regional. So ist es auch der Fall bei der kroatischen Prosa und Poesie der Sachlichkeit, die in der Mitte der Neunziger aufkommt und die auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts als eine der dominanten literarischen Strömungen funktioniert. Freilich handelt es sich um eine Literatur, die leidenschaftlich betrieben wird und zugleich heftig umstritten ist, die aber auch ihr Gegengewicht in einer Reihe individueller modernistischer Projekte innerhalb der kroatischen Gegenwartsliteratur hat.

Der bayrisch-kroatische Literaturdialog, der in Zagreb im Kroatischen Staatsarchiv stattfand, versucht diese Verschiedenheiten in der zeitgenössischen kroatischen Literatur soweit wie möglich zu berücksichtigen. Natürlich ist hier das Schlüsselwort der Dialog, und die Situation, in der die kroatischen Autoren die Arbeit ihrer bayrischen Kollegen vorstellen, scheint mir in der Form eine außerordentlich attraktive und sehr fruchtbare Strategie für eine ambitionierte literarische Veranstaltung zu sein. So verschiedene Autorinnen wie zum Beispiel Ivana Sajko und Ivana Bodrožić stellen fast im selben Ausmaß verschiedene bayrische Autoren und Autorinnen vor, wie es Werner Fritsch und Heike Geißler sind. Und was aus einer solchen Form des Vorstellens und Dialogs zum Vorschein kommt, ist unter anderem auch das Gefühl des Autors, dass es irgendwo in Europa einen literarisch Gleichgesinnten gibt, jemanden, dessen Poetik man eventuell selbst unterschreiben könnte. So konnten sich die Verschiedenheiten auf der Ebene einer regionalen Literatur hier als Ähnlichkeiten zwischen Literaturen unterschiedlicher Regionen/Staaten spiegeln. Wir sehen, dass ähnliche Prozesse und Probleme in beiden Literaturen vorhanden sind und dass sie auf ähnliche Weise reflektiert werden. Beispielsweise ist der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze ein Autor, der Raymond Carver sehr viel verdankt, so wie es auch bei den kroatischen Autoren der Sachlichkeitsprosa der Fall ist. Und die Gesellschaft im weitesten Sinne des Wortes, dieses große Thema der Literatur des neuen Jahrhunderts, hat sich auch hier als eines der dominanten erwiesen.

[Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof]

Zoran Ferić, geboren 1961 in Zagreb, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Kroatiens. Studium an der Philosophischen Fakultät von Zagreb. Gymnasiallehrer für Kroatisch. Zahlreiche Publikationen in kroatischen Zeitschriften. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Italienische, Polnische, Spanische, Slowenische, Ukrainische, Montenegrinische. In Deutsch erschienen: Walt Disneys Mausefalle (1999), Engel im Abseits (2000), Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzchen (2003), Die Kinder von Patras (2006) – alle in Übersetzung von Klaus Detlef Olof und im Folio Verlag Wien/Bozen. Sein jüngster auf Deutsch erschienener Roman Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr, Folio Verlag 2012, wurde in Kroatien mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Prosa-Preis der Zeitung Jutarnji List, dem Vladimir-Nazor-Preis und dem Preis der Stadt Zagreb.

 

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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